„Das Volk hat entschieden!“ – oder doch nicht?

01.01.2015

Blogeintrag auf unserer Wahlkampfwebseite von Etienne Winter vom 01.01.2015


Wer kennt sie nicht? Die kaum wegzudenkende Floskel nach jeder Volksabstimmung „Das Volk hat entschieden!“. Sei es auf Bundesebene nach einem hitzigen Abstimmungskampf, auf kommunaler Ebene an der Gemeindeversammlung oder an der hochgelobten Landsgemeinde in der Innerschweiz, immer fallen diese vier Worte – meist von der Gewinnerseite – um jegliche nachträgliche Diskussion möglichst rasch zu beerdigen. Sie gilt als oberste Heilige Kuh der schweizerischen direkten Demokratie und wird von der Politik – ob links oder rechts – nicht infrage gestellt: Das Volk ist der Souverän! So verweisen die Politiker und Politikerinnen noch so gerne mit erhobenen Fingern auf die Bundesverfassung, die dem Volk die oberste politische Souveränität zuspricht. Wieviel von diesem Grosstun dann übrig bleibt, zeigt sich, wenn das Volk anderer Meinung als die Classe politique ist: Meist heisse Luft! Stichwörter hier sind die Alpeninitiative oder aktuell die SVP-Einwanderungsinitiative, deren Umsetzung über Jahre dahingezogen werden.


Dieser Artikel stellt nicht die Souveränität des Volks in Frage, sondern das Volk selbst. Denn wenn für Politiker die Diskussion durch die Floskel „Das Volk hat entschieden!“ beendet ist, fangen Politologen – genauer Demokratietheoretiker – erst mit der Diskussion an. In der Schweiz unterliegen die Entscheide eidgenössischer Volksabstimmungen der kleinsten demokratischen Hürde - dem einfachen Mehr (50% +1). Dabei spielt es keine Rolle wie hoch das Resultat ausfällt. Ob nun eine Vorlage mit 51% oder 93% Ja-Anteil angenommen wird, macht keinen Unterschied, eben: „Das Volk hat entschieden!“


Doch wer ist denn überhaupt das Volk? Geht es nach dem bekannten Demokratietheoretiker Robert Dahl, so besteht das Volk aus jenen Personen, die direkt von den demokratischen Entscheiden betroffen sind. Oder anders gesagt: Die ständige Wohnbevölkerung einer Demokratie. In Bezug auf die Schweiz wären dies heute rund 8 Millionen Menschen. Von diesen 8 Millionen Menschen sind 4.8 Millionen Menschen stimmberechtigt, was rund 65% der ständigen Wohnbevölkerung ausmacht. In der Schweiz sind jene Menschen nach Artikel 136 der Bundesverfassung stimmberechtigt, die einerseits mündig – also mindestens 18 Jahre jung sind – und nicht „wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche unter umfassender Beistandschaft steht oder durch eine vorsorgebeauftrage Person vertreten werden“. Die Stimmbeteiligung bei eidgenössischen Volksabstimmungen liegt im Schnitt bei tiefen circa 40%, variiert jedoch stark von Vorlage zu Vorlage. Ursache hier ist vor allem die Verständlichkeit der einzelnen Vorlagen, sowie die Stärke des polarisierenden Abstimmungskampf im Vorfeld. Wissenschaftlich unumstritten ist ebenso der Fakt, dass Stimmberechtigte mit einem hohen Einkommen und hoher Bildung proportional zahlreicher an Abstimmungen teilnehmen, als Personen mit einer tieferen Bildung und tieferem Einkommen. Ebenfalls nimmt die Stimmbeteiligung mit vorgeschrittenem Alter deutlich zu.


Fassen wir diese Fakten alle zusammen, so kommt folgende einfache Rechnung heraus: 65% Stimmberechtigte x 40% Teilnehmende x 50% Ja-Anteil = 13% Entscheid.


Oder in einem Satz zusammengefasst: Die entscheidende Mehrheit bei eidgenössischen Volksabstimmungen innerhalb der Vorbild-Demokratie Schweiz stellt eine 13% grosse überalterte elitäre Bourgeoisie dar.


Wie gesagt: „Das Volk hat entschieden!“ –oder doch nicht?


Etienne Winter, Landratskandidat, Allschwil, Wahlkreis Allschwil