Stoppen wir den Raubzug auf die Demokratie!

01.11.2016

Ein Diskussionsbeitrag von Jonas Eggmann und Joël Bühler
Zu was die Vorherrschaft des Neoliberalismus geführt hat, wissen wir alle: Gewinne werden privatisiert und Verluste auf die Gesellschaft abgewälzt. Drei Jahrzehnte Privatisierungen haben so nicht nur zu einer gigantischen Umverteilung von unten nach oben geführt, sondern schrittweise die demokratischen Gestaltungsmöglichkeiten der Politik eingeschränkt.
Mit Freihandelsabkommen wie TTIP und TISA erreicht der Raubzug der marktradikalen Antidemokraten auf die Demokratie eine neue Dimension: Private Schiedsgerichte sollen es Konzernen ermöglichen, Staaten wegen profitschmälernden Entscheiden zu verklagen, Privatisierungen im Voraus schaffen den Service public ab und Sozial- und Umweltstandards werden gesenkt.
Diese Konzerndiktatur dient dazu, die Profite des globalen Geldadels zu sichern und seine Macht weiter zu vergrössern. Um das zu verhindern, haben wir im Rahmen der Debatte über ein neues Initiativprojekt für die JUSO Schweiz das Projekt «Demokratie statt Konzerndiktatur» eingereicht. Konkret fordern wir: Die Schweiz soll nur noch Freihandelsabkommen unterzeichnen können, in denen soziale, ökologische und menschenrechtliche Mindeststandards definiert sind. Ausgeschlossen werden Abkommen mit sog. Investor-Staat-Streitbeilegungsmechanismen (Schiedsgerichten) sowie mit Regelungen, die Privatisierungen und Liberalisierungen des Service public fördern und das Rückgängigmachen von solchen verhindern oder erschweren.
Das Feld, auf dem sich das Spiel entscheidet
Um die Dringlichkeit und Brisanz einer solchen Regelung zu erkennen, reicht ein Blick auf die jüngere Geschichte des Handels: Nachdem die Welthandelsorganisation (WTO) im Zuge ihrer Gründung drei grosse Abkommen zur Liberalisierung des weltweiten Handels (GATT, GATS, TRIPS) ausarbeiten und in Kraft setzen konnte, scheiterte die mit grossen Erwartungen aufgegleiste Doha-Runde am Widerstand der «Entwicklungsländer». Die Staaten aus dem Süden wehrten sich zu Recht gegen weitere Liberalisierungen und Deregulierungen, insbesondere des Agrarhandels, die so aufgegleist wurden, dass die europäischen Ländern sowie die USA ihre Privilegien nicht aufgeben mussten.
Weil aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips in der WTO so keine weiteren, letztlich ausbeuterische, Abkommen durchgesetzt werden konnten, suchten die reichen Industrieländer neue Wege, die ihrer Wirtschaft und den Grosskonzernen dienten. Sie fanden diesen Weg in der Gründung vieler exklusiver Clubs, sog. «Regionale-Mega-Abkommen». NAFTA, TPP, CETA, TTIP, TISA usw. sind die Clubnamen, in denen Freihandelsabkommen eines neuen Typus verhandelt werden.
Denn entgegen der landläufigen Meinung geht es in Freihandelsabkommen längst nicht mehr nur um den Abbau von Zöllen, den Schutz geistigen Eigentums sowie Verpflichtungen zum Schutz des Wettbewerbs und den Handel mit Dienstleistungen. Die genannten Mega-Abkommen gehen weit über eine Öffnung der Märkte hinaus, hin zu einer Rechtsharmonisierung sowie der gegenseitigen Anerkennung von Vorschriften (in Bezug auf TTIP wird teilweise von einer «binnenmarktähnlichen Tiefe» gesprochen). Um das zu erreichen und durchzusetzen sehen die meisten Abkommen eine regulatorische Kooperation vor. Diese zielt de facto auf eine weitreichende politische Selbstentmachtung der Parlamente zugunsten von Konzernen und Banken. Gesetzesvorhaben würden einem demokratisch nicht legitimierten gemeinsamen «Regulierungsrat» vorgelegt, bevor sie überhaupt in die nationalen Parlamente gelangen. Die demokratiepolitischen Defizite davon sind offensichtlich.
Jeglichen Rahmen des Vorstellbaren sprengt TISA mit seinen Negativlisten sowie der Standstill- und Ratchet-Klausel: Was nicht auf einer Negativliste steht, bleibt für immer dereguliert, die Regulierungsdichte darf nur abgebaut, nicht erhöht werden und wenn eine zusätzliche Regulierung beschlossen wurde, darf diese nie mehr rückgängig gemacht werden. Damit wird der Service public im Voraus privatisiert und der Demokratie «ewige Fesseln» angelegt, die mit den Grundsätzen unseres Rechtsstaates unvereinbar sind. Eine definitivere und umfassendere Garantie des Privateigentums an den Produktionsmitteln ist kaum vorstellbar: Sind Bereiche erst mal privatisiert und dereguliert, können der Verfügungsgewalt des Kapitals keine Schranken mehr gesetzt werden.
Die Frage nach der Ausgestaltung von Freihandelsabkommen, die die Schweiz unterzeichnet, wird also in den nächsten Jahren dramatisch an Bedeutung gewinnen. Der gesamte sozialpolitische Fortschritt in unserem Land steht auf dem Spiel und stellt wie kein anderes politische Thema die Grundsatzfrage nach dem Primat der Politik über die Wirtschaft.
Einschub: Konzerndiktatur, Wirtschaftsdemokratie und Privateigentum
An dieser Stelle ein kurzer Einschub als Replik auf die Kritik an unserer Argumentation. Im Kern geht der Vorwurf dahin, wir würden ein reduktionistisches Verständnis von Demokratie vertreten bzw. den Staat mit Demokratie gleichsetzen. Es ist sicherlich zutreffend, dass Demokratie nicht auf die Institutionen des bürgerlichen Staates beschränkt bleiben sollte. Und natürlich spiegeln sich im Staat die (demokratisch errungenen) gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse wider. Zwar verändern wir mit unserem Projekt die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln gegenüber dem Status quo nicht. Daran sind unsere Gegner_innen aber bereits mit voller Energie: Durch die verhandelten Freihandelsabkommen wollen sie Privateigentum nicht nur mit der bürgerlichen Demokratie, sondern auch gegen die bürgerliche Demokratie durchsetzen. Mit faktischen Regulierungsverboten und unwiderrufbaren Privatisierungen wird eine viel umfassendere Garantie von Privateigentum an den Produktionsmitteln verankert als je zuvor. Nichts freut die Kapitalist_innen mehr, als eine rechtliche Garantie der Profite, die sie sich dank ihren Produktionsmitteln aneignen können und ein Verbot von Rückverstaatlichungen. Und was gibt es besseres, als garantierte Absatzmärkte auch für minderwertige oder schädliche Produkte?
In diesem Sinn sehen wir unser Projekt als eine Form von Wirtschaftsdemokratie, in dem wir die bereits vorhandene Verfügungsgewalt des bürgerlichen Staates über die Wirtschaft absichern möchten und eine leichte Vergrösserung anstreben. Die dadurch lancierte Diskussion zielt genau darauf ab, den diskursiven Boden zu bereiten, um weitergehende wirtschaftsdemokratische Forderungen zu stellen. Die Kritik an unserem Projekt verkennt, dass gesellschaftliche Kräfteverhältnisse eben nur dann verschoben werden können, wenn unsere Argumentation anschlussfähig an bestehende Denkmuster ist, um diese danach ausreizen und brechen zu können.
International in die Offensive gehen
Unser Initiativvorschlag knüpft an die von der JUSO lancierte Debatten zur Verteilungsgerechtigkeit (1:12) und den Internationalismus (Spekulationsstopp) an und bietet darüber hinaus die Möglichkeit, sich offensiver als bisher gegen den weltweiten Standortwettbewerb (Nord-Süd-Gefälle) zu stellen. Zugleich eröffnet es ein neues Themengebiet: Wie eine linke Ausgestaltung von Handelspolitik aussehen könnte, ist ein wenig diskutiertes und wenig erforschtes Gebiet. Die JUSO kann hier aktiv ein zukunftsträchtiges Thema besetzen und zusammen mit unseren Schwesterparteien eine solidarische Handelspolitik ausarbeiten. Denn eines sollte klar sein: Im nationalstaatlichen Reduit werden wir nie aus der Defensivhaltung herauskommen!
Unsere Bewegung stärken
Nicht zuletzt, und daran kranken linke Initiativen in unseren Augen oft, knüpft das Projekt an einen bestehenden Unmut an und präsentiert dafür einen konkreten Lösungsvorschlag. Europaweit hat der Protest gegen Freihandelsabkommen Millionen von Menschen auf die Strasse gebracht, in Deutschland fanden die grössten Demonstrationen seit den Anti-Kriegs-Demonstrationen 2003 statt. Wer dieses Mobilisierungs- und Mitgliedergewinnungs-Potential für unsere Bewegung beiseite lässt, verpasst eine Chance, auf die wir lange warten müssen.